Gerhard Trommer: Freigefühl mit Rucksack

Unsere Seele ist dem Leib nach wie vor biologisch mehr angehaftet (Leibhaftigkeit) als etwa dem Smartphone, auch wenn das bei der allgegenwärtig zu beobachtenden Dauerbenutzung von Handyderivaten zweifelhaft zu sein scheint. Können und wollen wir einseitig geworden in Kunstwelten, Kunstwolken (sog. Clouds) und von Kunstprodukten leben? Vermutlich brauchen wir daneben noch etwas anderes. Vielleicht das unbezahlbar-unberechenbare Wilde. Es waltet noch immer. Draußen vor der Tür. Wir könnten uns davon herausfordern lassen, z.B. um im Vergleich mit dem rasenden geldwerten Konsum und mit dessen oft teuren Nebenwirkungen noch ermessen zu können wie domestiziert, Reparatur anfällig und käuflich wir und unser Lebensstil schon geworden sind.

Eine zur Wildniserfahrung anleitende Pädagogik wird zunächst die Heranwachsenden mit Sorgfalt überzeugen müssen, sich unverwöhnt aus Kultur und Zivilisation raus hinter den Zaun ins Wilde zu begeben, um dort bildende Erfahrungen zu machen. Das scheint vorübergehend auf den Kopf zu stellen, was Pädagogik nach überliefertem Selbstverständnis ausmacht: zivilisationsfähig zu bilden und zu erziehen. Jedoch kehren auch die erhofft sich der Wildnis zuwendenden Heranwachsenden wieder zurück ins zivilisierte Leben, dann aber – wieder erhofft – mit einem durch die Begegnung mit Wildnis kritisch geschärften Blick und mit einem anders empfindsam gewordenen Leib. Es ginge dabei also um eine leibhaftig erneuerte Rückkehr: „zurück in die Zivilisation“. Denn die Begegnung mit Wildnis (Artenvielfalt, Strukturvielfalt, Naturstille, frische Luft, frisches Wasser, unverbrauchte Böden, nicht inszenierte Schönheit, ein anderes Freigefühl etc. ) soll durch positive innere Vorstellungen, die in uns entstehen können, den Kontrast zu aktuellen Lebensumständen und -gewohnheiten schärfen und uns durch kritisches Vergleichen anhalten, zur Erneuerung und Verbesserung des Lebens im Zivilisationszeitalter beizutragen.

Der Gang aus der Superzivilisation ins Wilde geht kaum noch ungeschützt. Wir nehmen daher den mit Gurten festgezurrten Rucksack mit. Der gehört zur Übung erneuerter Leibhaftigkeit (vgl. Rucksackschule Trommer 1991). Der ermöglicht uns, wenn sorgfältig gepackt, auch die Rückkehr. Nackt und ohne jedes Zeug wären wir (bzw. die meisten von uns) im Wilden dauerhaft nicht lebensfähig. Wir definieren daher den Rucksack als minimalen Zivilisationspacksack. In den kann und darf nicht alles hinein, was wir haben wollen und was wir gewöhnt sind. Der soll nur eine bescheidene, einfache Grundversorgung draußen sicherstellen und dazu beitragen, dass wir Einfachheit und auskömmliche Bescheidenheit neu schätzen lernen. In den Rucksack kommt auch der nicht kompostierbare Abfall, den wir draußen erzeugt haben, damit wir den zur „Entsorgung“ ins technische Zivilisationssystem zurück bringen. Der Zivilisationspacksack hilft also den Fußabdruck in wildtypischer Natur zu minimieren. – Auf geht’s!

 

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